Eine Kritik an der deutschen Zeitverwendungserhebung
von Dr. Christine Rudolf
Die 4. Zeitverwendungserhebung in Deutschland ist in der Vorbereitungsphase. Seit ein paar Wochen kann sich jede*r anmelden, der oder die mitmachen will. Aus den eingegangenen Bewerbungen wählen die statistischen Landesämter dann die teilnehmenden Haushalte aus. Der Verteilungsschlüssel zwischen den Bundesländern ist festgelegt. Im nächsten Jahr sollen insgesamt 5000 private Haushalte an drei festlegten Tagen (zwei Werktage, ein Tag am Wochenende) über ihre Tätigkeiten Auskunft geben. Dabei sollen alle Mitglieder eines Haushalts teilnehmen. Die Tätigkeiten und Arbeiten werden im 10-Minuten-Takt schriftlich in einer Tabelle festgehalten, wobei es auch möglich ist, sich überschneidende Aktivitäten einzutragen – beispielsweise Geschirr spülen und gleichzeitig Kinder beaufsichtigen. Zum ersten Mal wird auch eine App zur Verfügung gestellt, die die Eingabe der Daten erleichtern soll. Ebenfalls neu ist die gesetzliche Grundlage für diese Erhebung. Kurz bevor der Bundestag sich in Sommerpause und Wahlkampf verabschiedete, hat das entsprechende Gesetz eine Mehrheit im Parlament gefunden. Bisher wurde die Studie vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend freiwillig finanziert.1Gesetz über die statistische Erhebung der Zeitverwendung (ZVEG). Dieses Gesetz ist am 1. Juni 2021 in Kraft getreten. Inhaltlich und methodisch hat sich nichts geändert. Aus einer feministischen Perspektive gibt es inhaltliche und formale Kritikpunkte an dieser Form der Erhebung und der statistischen Erfassung unbezahlter Arbeit.
Tendenz oder Ausreisser?
Die Zeitverwendungsstudie wird in Deutschland nur alle zehn Jahre erhoben. Findet eine Erhebung in so grossen Abständen statt, können Veränderungen, die sich in der Zwischenzeit ergeben, nicht sinnvoll erfasst und analysiert werden. Das macht es unmöglich, politisch auf kurz- und mittelfristige Entwicklungen zu reagieren – wie es beispielsweise während des Lockdowns in der Folge der Corona- Pandemie nötig gewesen wäre.
Der lange Zeitabstand zwischen den Erhebungen macht es schwierig zu beurteilen, ob allfällige Veränderungen eine Tendenz abbilden, oder einen zufälligen Ausreisser zeigen. Verschiebungen zwischen unbezahlter und bezahlter Arbeit sind dadurch nicht erkennbar. Um gesellschaftliche Veränderungen politisch zu thematisieren und zu initiieren, wären aber gerade in diesem Bereich belastbare statistische Fakten nötig. Insbesondere für Frauen macht das einen wesentlichen Unterschied, da sie den Grossteil der unbezahlten Haus- und Familienarbeit leisten. Darüber hinaus bietet eine Zeiterhebung, die nur alle zehn Jahre durchgeführt wird, keine sinnvolle Möglichkeit, die unbezahlte Arbeit in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einzubeziehen, die jährlich gemacht wird und eine wichtige Grundlage für wirtschaftspolitische Debatten und Entscheidungen ist.
Aussagekraft
Mit 5000 privaten Haushalten in ganz Deutschland ist die gewählte Stichprobe für die Zeitverwendungserhebung deutlich zu klein, wodurch ihre Aussagekraft in Frage gestellt werden muss. Die statistische Verzerrung, die eine solch kleine Stichprobe zulässt, lässt maximal eine sehr grobe monetäre Berechnung der unbezahlten Arbeit zu. In der Schweiz beispielsweise werden für die Erhebung des unbezahlten Arbeitsvolumens rund 25`000 Personen befragt. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgrösse von 2.2 Personen, entspräche diese Stichprobe für Deutschland über 11`000 Haushalten: Eine massiv grössere Stichprobe gemessen an der Gesamtbevölkerung.
Keine Frage der Freiwilligkeit
Inhaltlich weist die Zeitverwendungserhebung aus feministischer Perspektive wesentliche Mängel auf. Die Betreuung von Menschen, die nicht im eigenen Haushalt leben wird unter ferner liefen abgehandelt, denn sie wird gemeinsam mit ehrenamtlicher Tätigkeit und der Teilnahme an Versammlungen erfasst.2Dies ist ein international standarisiertes Verfahren bei der Erhebung. Allerdings weisen manche Statistiken am Ende die beiden Bereiche zusammengenommen als unbezahlte Arbeit aus. Daher kommen wohl auch die erheblichen Differenzen in Statistiken. Die Daten für 2012 zeigen, dass 8-mal so viel Zeit in die Unterstützung anderer Haushalte investiert wird wie für Betreuungsarbeit für Kranke im eigenen Haushalt. Das heisst: Ein Grossteil der Unterstützung von Angehörigen oder Freund*innen wird somit nicht zur unbezahlten Arbeit im Haushalt dazu gerechnet. In einer älter werdenden Gesellschaft, in der immer mehr Menschen auf Hilfe angewiesen sind und 80% der Pflegebedürftigen in ihren eigenen vier Wänden gepflegt werden, ist diese Arbeit ein bedeutender Faktor, der somit nicht als unbezahlte Arbeit im Haushalt ausgewiesen wird. Und auch hier leisten Frauen mehr Arbeit als Männer. Ausserdem kommt es durch ausserhäusliche Betreuung und Pflege möglicherweise zu Verschiebungen im eigenen Haushalt, die statistisch nicht abgebildet werden, wenn die Stunden für diese Arbeiten in gesonderten Statistiken erscheinen. Überdies ist es problematisch, die Versorgung und Betreuung von Menschen, die der Unterstützung und/oder Pflege bedürfen in einer Reihe mit freiwilligem Engagement oder Ehrenamt zu betrachten. Denn es handelt sich um Arbeit, die getan werden und das Kriterium der Freiwilligkeit zumindest stark in Zweifel gezogen werden muss.
Was es braucht und welche Fragen sich stellen
Die Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern hat sich seit der ersten Erhebung nicht grundlegend geändert. Zwar bringen sich Männer heute etwas mehr in die innenhäusliche Pflege und Kinderbetreuung ein. Die Hausarbeit verbleibt jedoch überwiegend bei den Frauen. Das Ritual ist also: alle zehn Jahre ein Aufschrei – und dann?
Wenn diese Erhebung jährlich oder wenigstens alle 3 bis 4 Jahre mit einer grösseren Stichprobe durchgeführt würde und wenn die Teilnahme verpflichtend wäre, wie bei anderen Erhebungen auch, würden sich viel mehr Menschen im Laufe ihres Lebens mit diesem Thema befassen, ob sie wollen oder nicht. Ausserdem könnte sie sinnvoll(er) in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingefügt werden. Dadurch wäre eine permanente gesellschaftliche Diskussion über dieses so wichtige Thema möglich. Aber vor allem könnten politische Massnahmen auf neue Tendenzen abgestimmt und auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Dafür sollte amtliche Statistik ja bekanntlich gemacht werden.
Unbezahlte Arbeit als Teil der Gesamtwirtschaft
Weit mehr als die Hälfte der Arbeit wird in der unbezahlten Sorge- und Versorgungswirtschaft geleistet (sie umfasst alle unbezahlte Arbeit rund um die direkte Sorge um und die Versorgung von Menschen). Sie ist der Motor unserer Gesellschaft und wird dennoch sträflich vernachlässigt – auch statistisch. Deshalb wäre es wichtig, diese Arbeit innerhalb der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Teil eines eigenen Sektors, aber auch im Verhältnis zum «Rest» der Wirtschaft zu betrachten.3Vgl. Anja Peter und Christine Rudolf: Ein feministischer Blick auf eine zukunftsfähige Versorgungsökonomie. In: Makronom, 21. Juni 2021: https://makronom.de/ein-feministischer-blick-auf-eine-zukunftsfaehige-versorgungsoekonomie-39582 (1. Nov. 2021) Welche Veränderungen gegenüber Sektoren, die eine höhere Produktivität aufweisen, gibt es? Wie finanzieren wir die Arbeit in diesem Sektor, der überdurchschnittlich zum BIP wächst? Von welchen ökonomischen Grössenordnungen sprechen wir überhaupt und was bedeuten sie in Bezug auf Organisation und Finanzierung von Arbeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene?
Um solche Fragen beantworten oder überhaupt erst diskutieren zu können, brächte es effektiv sowohl eine Erhebung nach dem Vorbild der schweizerischen erweiterten Erhebung zu unbezahlter Arbeit im Rahmen der Arbeitskräfteerhebung und eine Verknüpfung der Zeitverwendungserhebung innerhalb des Sozioökonomischen Panels (SOEP). Wir brauchen eine solide wissenschaftliche Basis entlang der Lebens- und Arbeitsrealität der Menschen.
Zukunftsdebatten
Gesellschaftliche Organisation und Finanzierung von qualifizierter, gut bezahlter und von unbezahlter Sorge- und Versorgungsarbeit bedarf vielfältiger neuer Antworten. Es ist der bezahlte und unbezahlte Sorge-und Versorgungssektor, in dem ein wesentlicher Teil der Arbeit verrichtet wird, die grundlegend ist für unseren Lebensstandard. Im Zuge der Automatisierung werden viele Jobs verloren gehen. Klar ist aber, dass die Sorge- und Versorgungsarbeit, sei sie unbezahlt oder bezahlt, nicht weniger wird.4Vgl. Destatis: Bruttoinlandsprodukt von 1991 bis 2021: https://service.destatis.de/DE/vgr_dashboard/bip.html (1. Nov. 2021)
Sowie statista: Statistiken zur Dienstleistungsbranche: https://de.statista.com/themen/1434/dienstleistungsbranche/ (1. Nov. 2021) Wie verändert sich also die Dynamik gesamtwirtschaftlich, wenn sich das Verhältnis zwischen sogenannt wertschöpfungsstarken und arbeitsintensiven Sektoren und Branchen verändert? Das ist eine zentrale Frage die unsere Gesellschaft in Zukunft entscheidend prägen wird. Ist dieses Problem mit einem bedingungslosem Grundeinkommen lösbar, oder wird damit unbezahlte Arbeit als Lebensgrundlage weiterhin verschleiert, so wie es in der Statistik jetzt schon praktiziert wird? Die Bedingungen, unter denen diese Arbeit geleistet wird, prägt ihre Qualität. Deshalb muss zunächst Transparenz darüber hergestellt werden, wer diese Arbeit wo, wie und unter welchen Bedingungen leistet. Dann können wir solide über die Bezahlung, Finanzierung, Verteilung, das Zeitbudget und vieles mehr.
- 1Gesetz über die statistische Erhebung der Zeitverwendung (ZVEG). Dieses Gesetz ist am 1. Juni 2021 in Kraft getreten.
- 2Dies ist ein international standarisiertes Verfahren bei der Erhebung. Allerdings weisen manche Statistiken am Ende die beiden Bereiche zusammengenommen als unbezahlte Arbeit aus. Daher kommen wohl auch die erheblichen Differenzen in Statistiken.
- 3Vgl. Anja Peter und Christine Rudolf: Ein feministischer Blick auf eine zukunftsfähige Versorgungsökonomie. In: Makronom, 21. Juni 2021: https://makronom.de/ein-feministischer-blick-auf-eine-zukunftsfaehige-versorgungsoekonomie-39582 (1. Nov. 2021)
- 4Vgl. Destatis: Bruttoinlandsprodukt von 1991 bis 2021: https://service.destatis.de/DE/vgr_dashboard/bip.html (1. Nov. 2021)
Sowie statista: Statistiken zur Dienstleistungsbranche: https://de.statista.com/themen/1434/dienstleistungsbranche/ (1. Nov. 2021)